Pressemitteilung zum PNAS-Artikel
„Phylogenetic network analysis of SARS-CoV-2 genomes“ von Peter Forster
und Kolleg*innen (F: +49 (0) 2534 53869 31)
Den Ursprüngen des Coronavirus auf der Spur
(https://www.pnas.org/content/early/2020/04/07/2004999117)
Genetiker und Archäologen aus Münster, Kiel und Cambridge haben sich zusammengetan, um den Ursprung und die Verbreitung des neuartigen Coronavirus nachzuvollziehen, wobei sie phylogenetische Methoden anwenden, die ursprünglich zur Rückverfolgung der Vorgeschichte der menschlichen DNA und sogar zur Rekonstruktion prähistorischer Sprachen entwickelt wurden.
In einer phylogenetischen Netzwerkanalyse der ersten 160 vollständigen menschlichen SARS-CoV-2-Genome, die den Beginn des Ausbruchs von Ende 2019 bis März 2020 dokumentiert, fanden die Forscher drei zentrale Varianten, die sie als A, B und C bezeichnet haben. Typ A ist der Urahne aller menschlichen Coronaviren gemäß Vergleichen mit dem eng verwandten Fledermaus-Coronavirus (und bestätigt durch den Vergleich mit zwei entfernter verwandten Coronavirus-Stämmen aus dem Pangolin, dem einzigen Säugetier mit Schuppen). Interessanterweise ist der in Wuhan-vorherrschende Typ B nicht der ursprüngliche menschliche Virustyp; aber auch in Wuhan kommt Typ A, d.h., das ursprüngliche menschliche Virusgenom, durchaus vor.
In dieser ersten Phase des Ausbruchs sind die A- und C-Typen in signifikanten Anteilen außerhalb Ostasiens zu finden, d.h. bei Europäern, Australiern und Amerikanern. Im Gegensatz dazu ist der B-Typ der häufigste Typ in Ostasien. Der C-Typ ist unter anderem früh in Singapur dokumentiert und ist auch unter den ersten europäischen Infektionsfällen zahlreich vertreten.
Die Forscher verwendeten phylogenetische Netzwerkmethoden anstelle von konventionellen Stammbaummethoden. Ein Merkmal der phylogenetischen Netzwerkmethoden ist, dass sie es den Forschern erlauben, hunderte mögliche Stammbäume gleichzeitig in einer übersichtlichen Darstellung anzuzeigen. Dieses übersichtliche Netzwerk ist ein wesentlicher Vorteil, wenn der wahre Stammbaum unbekannt ist und durch wiederkehrende Mutationen in einem sich schnell mutierenden Virusgenom verdeckt wird. Dieser mathematische Fortschritt wurde 1979 von Neuseeländern eingeführt. In den 1990er Jahren wurde die Analysemethode von deutschen Mathematikern, vor allem Prof. Hans-Jürgen Bandelt und Dr. Arne Röhl in Zusammenarbeit mit Dr. Peter Forster weiterentwickelt. Als Post-Doktorand im Institut für Rechtsmedizin der Universität Münster (Direktor: Prof. Dr. Bernd Brinkmann) führte Dr. Peter Forster die Netzwerkmethode auch in die forensische Molekulargenetik ein. 1998 entdeckte der renommierte Archäologe-Professor Colin Renfrew (Cambridge) die Vorteile der Analysemethode und gründete 1999 mit Dr. Peter Forster die weltweit erste archäogenetische Forschungsgruppe in einem archäologischen Institut. Dr. Peter Forster war Gründungsmitglied der Jungen Akademie und wurde 2012 zum Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) berufen.
Eine Anwendung des phylogenetischen Netzwerkansatzes im Fall des Coronavirus besteht darin, dass das resultierende Netzwerk die Infektionswege für dokumentierte Covid19-Fälle getreu nachzeichnet. So wurde beispielsweise der erste norditalienische Infektionsfall („Patient 1″) zunächst als von einer bestimmten Kontaktperson aus Wuhan infiziert betrachtet. Doch ein Test ergab, dass sie das Virus nicht trug. Die Suche nach dem italienischen „Patienten Null“ endete somit in einer Sackgasse, und eine wirksame Quarantäne potenziell infizierter Personen war unmöglich, woraufhin sich die Krankheit seitdem unkontrolliert in Italien ausbreitete. Das phylogenetische Netzwerk weist auf mindestens zwei unabhängige frühe Infektionswege in Italien hin, von denen einer mit dem Webasto-Fall in Bayern und der andere mit dem Ausbruch im “Singapur”-Zweig in Verbindung steht. Eine solche phylogenetische Rückverfolgung könnte daher plausibel helfen, undokumentierte Covid19-Infizierte zu identifizieren, die dann zur Eindämmung künftiger Ausbrüche der Krankheit unter Quarantäne gestellt werden können.
Die phylogenetische Software und eine Klassifikation der – derzeit – über 1000 Virusgenome sind kostenlos unter www.fluxus-technology.com verfügbar. Das Material beinhaltet eine vorläufige Analyse der Mutationsrate, wonach die erste Ausbreitung des menschlichen Virus auf einen Zeitpunkt irgendwann zwischen dem 11. September und dem 16 Dezember (das sogenannte 95-prozentige Konfidenzintervall) zurückdatiert werden kann.
Die Virusgenomsequenzen stehen Forschern nach der Anmeldung bei der Organisation GISAID zur Verfügung, die die globale Virusgenomdatenbank für SARS-CoV-2-Forscher betreibt.
„Die vorliegende Arbeit ist ein Meilenstein in der Analyse der Genomentwicklung des Corona-Virus. In der Corona-Pandemie sollte zukünftig auch der Aufklärung der viralen Genom-Sequenzen und ihrer Auswertung mit Hilfe der phylogenetischen Netzwerkanalyse mehr Bedeutung zugemessen werden“, sagt Prof. Dr. Bernd Brinkmann vom Institut für Forensische Genetik in Münster, dessen Wissenschaftlicher Leiter Dr. Peter Forster seit 2009 ist. “Es ist interessant, dass sich die im Bereich der forensischen Genetik etablierte Methodik auch auf die Virologie übertragen lässt.“, fügt er hinzu.
Übersetzung der Signifikanzerklärung, die die Wissenschaftler bei der amerikanischen Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ einreichten:
Dies ist nach unserem Wissen das erste phylogenetische Netzwerk von SARS-CoV-2-Genomen, die aus der ganzen Welt stammen. Diese Genome sind eng miteinander verwandt und stehen in ihren menschlichen Wirten unter evolutionärer Selektion, manchmal mit parallelen Evolutionsereignissen, d.h. die gleiche Virusmutation tritt in zwei verschiedenen menschlichen Wirten auf. Dies macht die Baustein-basierte phylogenetische Netzwerke-Analyse zur Methode der Wahl für die Rekonstruktion der evolutionären Virus-Pfade und des anzestralen Virus-Genoms im menschlichen Wirt. Die Netzwerkmethode wurde in etwa zehntausend phylogenetischen Studien über verschiedene Organismen verwendet und ist vor allem für die Rekonstruktion der prähistorischen Populationsbewegungen des Menschen sowie für ökologische Studien bekannt, wird aber bislang im Bereich der Virologie weniger häufig eingesetzt.
Die Abbildung zeigt beispielhaft die Daten-Auswertung mittels phylogenetischer Netzwerkmethodik für einen Patienten aus Ontario (Kanada).
Abbildung: Das Virus des Patienten aus Ontario (Kanada) befindet sich im phylogenetischen Netzwerk Cluster B. Dieser Patient war von Wuhan in Zentralchina nach Guangdong in Südchina gereist und kehrte dann nach Kanada zurück, wo er erkrankte und am 27. Januar endgültig mit COVID-19 diagnostiziert wurde. Sein Virusgenom verzweigt sich von einem rekonstruierten Ahnenknoten, mit davon abgeleiteten Virusvarianten in Foshan und Shenzhen (beide in der Provinz Guangdong), in Übereinstimmung mit seiner Reisegeschichte. Sein Virusgenom koexistiert nun mit dem anderer infizierter Nordamerikaner (ein Kanadier und zwei Kalifornier).
Kontakt für Anfragen: Dr. Carsten Hohoff hohoff@ifg-ms.de